
Stadtbahn S42 beim Audi-Werk in Neckarsulm, rechts oben die B27, links unten die NSU-Straße an einem Samstagnachmittag. ©SCRITTI
Die aktuelle Debatte über den B27-Anschluss an die Binswanger Straße in Neckarsulm und den vierspurigen Ausbau der Bundesstraße ist eine Diskussion aus dem vergangenen Jahrhundert. Kein Wunder, die Planungen dafür liegen ja schon Jahrzehnte zurück. Das aktuell vorgestellte Verkehrsgutachten (Bericht in der Heilbronner Stimme) hilft da nur wenig weiter, da es lediglich heutiges, Mobilitätsverhalten mit einem permanenten Wachstum an Autoverkehr weiter in die Zukunft projiziert. Gleichzeitig diskutieren wir intensiv über Klimaschutz und Fahrverbote in vielen Städten. Um die Klimaziele zu erreichen, sind auch drastische Maßnahmen im Verkehrsbereich notwendig, das weiß inzwischen jeder. Als ökologischer Verkehrsclub fordert der VCD schon lange die Verkehrswende, und zwar jetzt!
In einem aktuellen Artikel der BBC (Why you have probably already bought your last car – Warum Sie wahrscheinlich Ihr letztes eigenes Auto gekauft haben) heißt es: „A growing number of tech analysts are predicting that in less than 20 years we’ll all have stopped owning cars, and, what’s more, the internal combustion engine will have been consigned to the dustbin of history.“ Zahlreiche Experten gehen davon aus, dass sobald autonome, elektrisch angetriebene Fahrzeuge massentauglich sind, die Kosten für die individuelle Mobilität derart sinken werden, dass sich niemand mehr die Mühe machen wird, ein eigenes Auto zu besitzen und mit diesem jeden Tag zur Arbeit zu fahren. Wozu auch?
Laut dem BBC-Artikel fährt der durchschnittliche Autobesitzer in England weniger als 16.000 Kilometer im Jahr, Autos stehen 95 Prozent der Zeit anstatt zu fahren. Das ist in Deutschland nicht viel anders. Viele junge Menschen haben das längst verstanden und organisieren sich ihre Mobilität auf andere Weise. Was passiert also, wenn sich der aktuelle Trend fortsetzt und junge Menschen zunehmend auf den Besitz eines eigenen Autos verzichten? Was passiert, wenn wir eine Trendwende zum öffentlichen Verkehr hin schaffen und statt der B27-Fahrspuren die Bahngleise zwischen Neckarsulm und Bad Friedrichshall verdoppeln?
Ein tragfähiges Gutachten sollte nicht nur statisch den wachsenden Individualverkehr betrachten, sondern auch alternative Szenarien berücksichtigen. Was ist, wenn der Autoverkehr in 10, 20 Jahren tatsächlich signifikant weniger wird? Sind dann die zig Millionen für den B27-Anschluss noch gerechtfertigt? Was würde passieren, wenn die Stadt Neckarsulm und die Region dieselbe Summe in den Ausbau und die Vernetzung des öffentlichen Verkehrs investieren würden? Wenn Busse und Bahnen alle fünf Minuten verkehren und alle großen Standorte von Audi, Bechtle, Lidl, Schwarz und Co. in alle Richtungen anbinden würden? Um wie viele Autos pro Tag könnten dann die geplagten BürgerInnen entlastet werden?
Es gilt die alte Weisheit: Wer Straßen baut, wird Verkehr ernten. Das sehen wir in der gesamten Region Heilbronn-Neckarsulm. Jede Straßenbaumaßnahme in der Vergangenheit wurde uns als „Entlastung“ verkauft – mit dem Ergebnis, dass der Individualverkehr inzwischen regelmäßig zusammenbricht und die Menschen die Luft in den Städten nicht mehr atmen können. Beim B27-Anschluss in Neckarsulm wird es nicht viel anders sein: Es mag sein, dass durch den Anschluss einzelne Straßen in Neckarsulm vom Autoverkehr entlastet werden. Was ist aber etwa mit den BürgerInnen, die etwas weiter weg in Erlenbach oder Kochendorf wohnen? Oder in Weinsberg? Werden auch sie entlastet oder haben sie in Zukunft stattdessen den Dreck vor der eigenen Haustür?
Eine regionale Verkehrsplanung, die ihren Namen verdient und alle Formen der Mobilität berücksichtigt, ist überfällig. Die Zeit der Insellösungen mit immer mehr und immer größeren Straßen muss ein Ende haben. Es geht nicht darum, wie man bequem mit dem eigenen Auto zur Arbeitsstelle kommt. Es geht darum, den Planeten Erde zu retten.
Michael Schwager, Mitglied im VCD-Vorstand Hall-Heilbronn-Hohenlohe
Hintergrund: Mitten durch Neckarsulm hindurch führt die Bundesstraße 27 als Schnellstraße aus dem Neckartal kommend nach Heilbronn hinein. Es gibt zwei Auf- und Abfahrten nördlich und südlich der Innenstadt bei der Kreuzung mit der Autobahn A6. Innerhalb der Stadt führt die zweispurige B27 über eine Brücke am Zentrum vorbei. Seit langem werden der durchgehende vierspurige Ausbau diskutiert (der aus Platzmangel nur schwer umsetzbar ist) sowie ein weiterer Anschluss im Bereich der kreuzenden Binswanger Straße zum Anschluss eines Gewerbegebiets. Dieser erfordert jedoch teure Rampen für die Auf- und Abfahrten zur tieferliegenden B27 und die Umsiedlung einer im Weg liegenden Baumschule. Daher summieren sich die Kosten inzwischen auf einen zweistelligen Millionenbetrag. Befürworter des Anschlusses glauben, dass dadurch weniger Autoverkehr durch die Innenstadt fließt und zugleich das Gewerbegebiet mit der Lidl-Zentrale attraktiver wird. Gegner erwarten nur noch mehr Verkehr und eine zusätzliche Belastung der Anwohner in diesem Bereich, weshalb sie ein Bürgerbegehren in dieser Frage initiiert haben. (mgr)
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